18 Oktober 2024
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30% der produzierten Textilien gelangen nicht in die Hände von Verbraucher:innen.
In der Bekleidungsindustrie werden nicht alle Stoffrollen verwendet. Diese Rollen werden als “Restposten” bezeichnet. Immer mehr aufstrebende und auch etablierte Marken verwenden diese Restbestände für die Herstellung neuer Artikel. Aber was genau sind Restposten? Was kann man damit machen? Und ist es wirklich so nachhaltig, wie es im ersten Moment klingt?
Deadstock Textilien sind Reste aus der Modeindustrie, die nach einer gewissen Zeit ausgemustert werden sollen. Es handelt sich dabei um Stoffe, die für ein Unternehmen produziert wurden, aber aus irgendeinem Grund doch nicht an dieses Unternehmen verkauft werden konnten. Zum Beispiel, weil die benötigte Menge nicht richtig eingeschätzt wurde, weil die Farbe falsch war oder weil der Stoff geringfügig beschädigt war. Diese Stoffe gelten als deadstock und können unter diesem Begriff an andere Unternehmen verkauft werden, manchmal unter besonderen Bedingungen, um die Exklusivität zu wahren.
Pakhuis de Zwijger veranstaltete in Zusammenarbeit mit Reflow einen Livecast mit dem Titel “Redesigning fashion: Das Deadstock-Dilemma”. Darin sprachen sie darüber, wie schwer es ist, herauszufinden, wie viel deadstock es gibt, und stellten fest, dass etwa 15 % der weltweiten Produktion als “deadstock” zurückbleibt – eine beträchtliche Menge.
Francisco van Benthum, Mireille Geijssen, Aarti O’Varma, Jos van den Hoogen, Ellen Sillekens und Irene Maldini sprachen in der gleichen Live-Sendung über ihre Erfahrungen mit Restposten, Recycling, Upcycling, Reparaturen und Second Hand.
Der Modedesigner Francisco van Benthum sprach im Pakhuis de Zwijger. Für sein Label HACKED by_verwendet er nur Reststücke. Er verwendet Teile, die nicht von großen Marken wie H&M und Ikea gekauft werden, und macht daraus seine eigene Kollektion mit Wiedererkennungswert.
Van Benthum erklärt: “Deadstock ist alles, was an Kleidung zurückbleibt und nicht verkauft wurde. Weltweit werden jedes Jahr etwa 100 Milliarden Kleidungsstücke hergestellt, von denen 30 % zurückbleiben und somit nicht zu Verbraucher:innen gelangen. Ein großer Teil davon wird vernichtet.”
HACKED by_wurde 2014 gegründet und wollte eine Lösung innerhalb des Systems anbieten, da sie bereits in der Modewelt tätig waren. “Wir waren uns des Problems bewusst und dachten: Was wäre, wenn man Zugang zu Restposten hätte? Wir wollen sie in schöne, positive Produkte verwandeln und mit Unternehmen zusammenarbeiten, die mit dem Problem zu kämpfen haben.”
Der Modedesigner weist darauf hin, dass Upcycling im Vergleich zu den Preisen, an die Unternehmen gewöhnt sind, teuer ist. “Weniger zu produzieren ist die beste Lösung, aber dabei liegt ein Teil der Verantwortung auch bei Verbraucher:innen. Es gibt jetzt eine große Nachfrage, also produzieren die Marken mehr, um diese zu befriedigen.
Van Benthum sagt, dass das Bewusstsein von Verbraucher:innen sehr wichtig ist. “Heutzutage wird Kleidung als Wegwerfprodukt angesehen. Etwa 169 Menschen arbeiten an einem Kleidungsstück, und nur sehr wenige Menschen sind sich dessen bewusst. Wenn man über diesen Prozess Bescheid wüsste, wäre die Wahrscheinlichkeit geringer, dass man Kleidung wegwirft”. Laut van Benthum ist die Existenz von Restposten ein Problem, das sich selbst lösen muss. Weniger zu kaufen, hilft dabei, sagt er, denn dann wird weniger produziert.
Mireille Geijssen gründete i‑did im Jahr 2009. Es handelt sich um ein Slow-Fashion-Label, das Menschen, die lange Zeit nicht gearbeitet haben, in ihren Ateliers in Utrecht und Den Haag arbeiten lässt und sie so an eine bezahlte Arbeit heranführt. i‑did produziert Taschen, Laptophüllen und akustische Interieurprodukte aus recyceltem Filz, der aus Textilien hergestellt wird, die sonst weggeworfen würden. Sie arbeiten also nicht mit Altmaterial, sondern mit gesammelten Alttextilien.
Geijssen sagt, dass einer der Gründe für den großen Überschuss darin liegt, dass der Vorteil der Überproduktion größer ist als der Nachteil, insbesondere wenn man es finanziell betrachtet.
Die Wirkung, die sie erzielen, ist für i‑did von größter Bedeutung. “Filz ist ein Material, mit dem auch Menschen arbeiten können, die noch nie hinter einer Nähmaschine gesessen haben. Wir bauen jetzt unsere eigene Fabrik in Den Haag auf, um hier unseren eigenen Filz aus ausgemusterter Firmenkleidung herzustellen, ihn zu faserisieren und durch die Filzstraße zu leiten.”
I‑did hat sich mit Ikea zusammengetan und unter anderem zwei Kollektionen aus Daunenbezügen hergestellt, die übrig geblieben waren. “Aber wir haben festgestellt, dass die Leute, die keine Daunendecken mit blauen Punkten kaufen, auch keine Schürzen mit diesem Aufdruck kaufen. Deshalb haben wir angefangen, mit Filz zu arbeiten.”
Aarti O’Varma hat einen Kleiderverleih namens The Collectives, in dem sie “gebrauchte” Designer-Vintage-Kleidung anbietet. Zum Beispiel CHANEL-Blazer, Balenciaga-Pumps oder Isabel Marant-Schuhe.
O’Varma arbeitet mit getragener Kleidung, die im Schrank hängt. “Ich habe damit begonnen, meine eigene Kleidung zu vermieten, jetzt kann mir jeder seine Kleidung zur Verfügung stellen. Ich habe eine Leidenschaft für Mode, aber ich weiß auch, dass sie ihre Schattenseiten hat. Ich habe so viele schöne Kleider an Leuten gesehen, dass ich sie jetzt vermiete. Nachhaltigkeit muss nicht auf Kosten der Schönheit der Kleidung gehen. Ich verkaufe auch einige Artikel und habe eine Partnerschaft mit De Bijenkorf”.
Sie hält es für wichtig, Produkte zu kaufen, die es bereits gibt, die also nicht neu sind. Außerdem ist sie der Meinung, dass wir uns von der Idee verabschieden können, etwas besitzen zu müssen. “Ein Kleidungsstück, das du bei mir für ein paar Tage ausleihst, trägst du wahrscheinlich genauso oft wie ein Kleidungsstück, das du bei Zara für das gleiche Geld käufst.”
Jos van den Hoogen ist Werkstattleiter bei Denim City, wo Kleidung aus altem Denim repariert, kuratiert und upcycelt wird. Er war auch Teil der Reparaturinitiative mit dem Amsterdam City Pass, bei der die Nutzer bis zu 90 % Rabatt auf Kleidungsreparaturen erhielten.
Denim City möchte die junge Generation ansprechen und nachhaltige Jeans herstellen. Deshalb unterrichten sie und zeigen, was man mit Denim machen kann. Van den Hoogen: “Wir nennen Amsterdam die Hauptstadt des Denims, denn die Amsterdamer wissen, wie man Jeans zu jeder Gelegenheit trägt.”
“Der durchschnittliche Niederländer hat acht Stück und wirft vier pro Jahr weg. Wir versuchen, zwei von diesen vier zu bekommen und etwas mit ihnen zu machen, wie sie zu personalisieren, zu reparieren oder neue Stoffe daraus zu machen. Wir präsentieren es so, dass es cool ist, eine Hose zu reparieren, und es ist schön zu sehen, dass die Leute ihr Lieblingskleidungsstück danach wieder tragen können.”
Van den Hoogen stellte fest, dass die Qualität der Jeans in den letzten Jahren nachgelassen hat. “Das stimmt, wenn man sich die Preise ansieht, aber wir können sie immer noch reparieren, wenn sie kaputt sind”. Er erwähnt eine Lösung für die großen Mengen an Restbeständen, die jetzt noch vorhanden sind. “Wir wollen die Lagerbestände niedrig halten. ‘Made to order’ oder ‘on demand’ kann dabei eine große Rolle spielen, denn dann wird die Kleidung nur dann hergestellt, wenn jemand sie bestellt hat, und kann auf die Bedürfnisse dieser Person zugeschnitten werden.”
Ellen Sillekens ist Innovationsmanagerin beim Textilsammler Sympany und hat einen Fokus auf Circular Business. Sie spricht darüber, welche Kleider Sympany sammelt und welche nicht und wo das System Defizite aufweist, wenn es darum geht, Kleider weiterzuverkaufen, zu nutzen oder zu recyceln.
Sympany sammelt Alttextilien in den ganzen Niederlanden. Sillenkens: “Wir bringen 70 Prozent wieder auf den Markt, davon sind 10 Prozent für den niederländischen Markt bestimmt. Einen Teil davon verkaufen wir auch in Afrika. Alle unsere Kunden haben spezifische Anforderungen; ein afrikanischer Kunde verlangt zum Beispiel, dass die Kleider fleckenfrei sind, möglichst helle Farben haben und keine Winterkleidung sein dürfen.”
Für Sympany ist es wichtig, dass die gesammelten Textilien in erster Linie wiederverwendet oder aufgearbeitet werden, und wenn beides nicht möglich ist, wird auf Faserebene geschaut. “Erst wenn auch auf Faserebene nichts mehr geht, schauen wir, was man mit chemischem Recycling machen kann, wie zum Beispiel mit SaXcell. Bei jeder Zusammenarbeit, die wir haben, schauen wir uns an, welche Kategorien sortiert werden müssen.” Hier liegt auch die größte Schwierigkeit, sagt sie. “Es ist ein Puzzle, das gelöst werden muss, finanziell ist es schwierig und in einigen Bereichen fehlt noch das Wissen. Soziale Inklusion und Transparenz werden immer wichtiger.”
Sillenkens sagt, dass sie auch Altmaterial aus der Textilsammlung erhalten. “Aber es gibt in der Regel Einschränkungen, wo sie landen können. Sie hält es für wichtig, die Designer:innen einmal hinter das Sortierband zu lassen. “Um zu zeigen, was mit den Materialien und dem Design passiert, und dass bereits beim Design Entscheidungen für die Nachhaltigkeit und die spätere Wiederverwendbarkeit der Kleidung getroffen werden können.”
Irene Maldini ist leitende Forscherin in der Forschungsgruppe Mode & Technologie an der Hogeschool van Amsterdam. Sie erforscht hauptsächlich Design für Nachhaltigkeit und ist Teil der Amsterdam Donut Coalition.
Maldini weist auch darauf hin, dass viele Statistiken über Deadstock ungewiss sind. “Es wird viel darüber diskutiert, aber die Zahl von 30 %, die Verbraucher:innen nicht erreichen, wird oft genannt. Wir wollen das Produktionsvolumen reduzieren und prüfen die Produktion auf Bestellung.”
Sie sagt, das Hauptargument für die Produktion “auf Bestellung” sei die Vermeidung von Lagerbeständen und die Einbeziehung von Verbraucher:innen in die Design- und Produktionsphase. “Das verleiht den Kleidungsstücken einen zusätzlichen Wert, so dass die Menschen eine Verbindung zu ihnen spüren. Auch wenn ich in meiner Forschung festgestellt habe, dass Menschen mit personalisierten Kleidungsstücken in ihrem Kleiderschrank nicht unbedingt kleinere Kleiderschränke haben.”
Sie sagt, es müsse ein Umdenken stattfinden. “Wir brauchen das, sonst werden sich die Unternehmen nicht ändern. Es ist eine große Herausforderung, denn wir müssen auch darüber nachdenken, wie sich die Wirtschaft verändern muss. Die Industrie muss umgestellt werden, und wir müssen in Technologie investieren.
Orsola de Castro äußerte ihre Meinung zum Thema Deadstock als Reaktion auf Sheins (@sheinofficial) Ankündigung einer Partnerschaft, um gerettete Stoffe und Deadstock in ihre Kollektionen zu integrieren. De Castro sagte:
“Ich hoffe, diese Initiative wird von einem 100%igen Transparenzversprechen begleitet, in dem erklärt wird, was diese Stoffe sind und woher sie stammen. In der heutigen Industrie, die seit Jahrzehnten überproduziert, ist ECHTER Deadstock schwer zu finden. Deadstock, auch als Haftungsbestand bekannt, ist ein Material am Ende seiner Geschichte, ohne weiteren Nutzen oder Wert.”
De Castro erklärt weiter:
“Die Mehrheit der Unternehmen, die Deadstock verkaufen oder verwenden, tut dies wahrscheinlich nicht. Sie sprechen von einem ganz anderen Produkt: Überproduktion, Überschuss, Reste… Im Wesentlichen Materialien, die NOCH einen Nutzen haben – sie versorgen örtliche Stoffgeschäfte und kleine Wiederverkäufer, die alle möglichen Arten von Kleidermacher:innen bedienen, nicht unbedingt Modedesigner. Ein florierender Markt, der seit Jahrhunderten existiert: Textilviertel auf der ganzen Welt sind voll von solchen Händlern.”
Sie betont die langjährige Praxis in der Industrie:
“Sicher, der Weiterverkauf von Beständen wurde von Geschwindigkeit und Volumen überschwemmt, und mehr Stoffe als je zuvor landen auf Mülldeponien und in der Verbrennung (weil wir mehr Stoffe denn je produzieren), aber dieser ‘innovative’ Ansatz ist so alt wie die Industrie selbst, wir haben heute nur bessere Technologie. Man kauft große Mengen an überschüssigen Beständen sehr günstig und verkauft sie mit Gewinn weiter.”
De Castro kritisiert Sheins Vorgehen:
“Shein wird riesige Mengen billiger Bestände von anderen Marken kaufen und sie als Kleidung verkaufen, die als ‘nachhaltig’ und ‘zirkulär’ vermarktet wird, obwohl sie weder das eine noch das andere sind.”
Sie glaubt, die wirkliche Lösung liege woanders:
“Der einzige Weg, wie ein Unternehmen wie Shein das Problem von Überbeständen angehen kann, ist, die Überproduktion an ihrer Quelle zu reduzieren, sich um den eigenen Bestand zu kümmern, bevor er zu Abfall wird, und ihn von innen heraus wiederzuverwerten. Dazu müssen neue Fähigkeiten entwickelt und neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um ihn zu bewältigen, und diese Praktiken sollten branchenweit eingeführt werden.”
Sie wies auch auf die weitergehenden Auswirkungen für die Textilarbeiter:innen hin:
“Shein gibt Versprechen einer umfassenderen Nachhaltigkeitsstrategie ab, die wir abwarten müssen; wir haben jedoch bisher keine direkte Erwähnung der Löhne der Textilarbeiter:innen in ihrer Lieferkette von zahlreichen kleinen Herstellern gesehen, und sicherlich ist bei Nachhaltigkeit der Existenzlohn das erste Thema, das angegangen werden muss.”
Schließlich de Castros scharfe Schlussfolgerung:
“Ansonsten ist es, Millionen von Metern geretteter Stoffe zu bewegen, um daraus Wegwerfkleidung zu machen, das Äquivalent von Müll in Scheiße zu verwandeln, wir sehen die Logik darin nicht.”
Bei COSH! denken wir, dass es gut ist, dass Restposten von einigen Marken ein neues Leben bekommen und dass dadurch der Stoffabfall verringert werden kann. “Doch das ist nicht ohne Risiko”, sagt Niki De Schryver, Gründerin von COSH! “Wenn die Nachfrage nach Deadstock-Stoffen steigt, fühlen sich die Unternehmen, die die Überschüsse verursachen, weniger verpflichtet, hier Verantwortung zu übernehmen, und die Überproduktion wird daher weitergehen. Vorbeugen statt zurechtbiegen, und deshalb von vornherein weniger produzieren.”
Außerdem sind nicht alle Lieferanten und Verkäufer:innen gleichermaßen transparent, was ihre Deadstock Bestände angeht. “Es kann daher vorkommen, dass Lieferanten absichtlich überproduzieren, weil sie die so genannten Deadstock Bestände noch mit Gewinn verkaufen können.
Darüber hinaus ist die Produktion und Verwendung von Stoffen aus Restbeständen nicht immer nachhaltig, denn Restbestände werden beispielsweise so eingestuft, weil der Stoff von einer Marke abgelehnt wurde. Vielleicht geschah das, weil die Qualität für diese Marke nicht hoch genug war. “Manchmal ist die Qualität für eine Marke, die Deadstock kauft, immer noch unzureichend, außerdem kann der Stoff unter unethischen Arbeitsbedingungen oder aus unökologischen Materialien hergestellt worden sein. Deadstock ist keine Garantie für ein vollständig nachhaltiges Produkt.”
Doch Deadstock hat durchaus seine Vorteile! Zum Beispiel ist es für kleine Unternehmen ein sehr schönes Ergebnis, weil man einzigartige Stoffe von manchmal hoher Qualität in kleineren Mengen und zu kleineren Preisen finden kann.
Deadstock-Stoffe haben theoretisch auch einen geringeren C02-Fußabdruck, da im Prinzip keine neuen Rohstoffe verwendet werden müssen. Der tatsächliche CO2-Fußabdruck hängt jedoch von den Materialien, dem Transport usw. ab und ist in der Praxis natürlich nie gleich null. Jedes Restpostenmaterial ist anders, genau wie jedes “neue” Material.
Ist Deadstock also die Lösung, um die Modeindustrie auf dem Weg zu einer Kreislaufwirtschaft nachhaltiger zu machen? Ja und nein, es gibt nie die eine Lösung, zu viel Produktion von ein und derselben Sache ist immer zu viel. Sie muss auf kleine Mengen beschränkt werden, denn nur dann hilft sie im Kampf gegen Überproduktion und ungenutzte Rohstoffe.
Bist du neugierig geworden auf Marken, die Deadstock-Materialien für ihre Kollektionen verwenden? Dann werfe unbedingt einen Blick auf koda amsterdam, Capsule Studio, Eva Maria, Kstmized, Studio AMA, Dailymenu, Natacha Cadonici, Overall Office, Designers Remix und HOWL.
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